Hallische Höllenqualen – Sterben im 18. Jahrhundert
Autorin: Katrin Moeller
?Erstveröffentlichung im Kulturfalter, Ausgabe April 2017
40.669 Menschen lebten und starben zwischen 1670 und 1820 in der Mariengemeinde in Halle. Jeder einzelne von ihnen wurde im Sterberegister der Kirchgemeinde sorgsam notiert und die Erinnerung an ihn so bewahrt. Dies gilt selbst für die vielen „Wochenkinder“, die nur einige Tage oder Stunden lebten. Kirchenbücher sind heute daher eine wunderbare Quelle, um den historischen Menschen der Frühen Neuzeit nachzuspüren. Sie werden eifrig von Historikern und Genealogen genutzt. Im Zuge eines Forschungsprojektes zu Lebensverläufen und Erwerbsbiografien im 18. Jahrhundert wurden die hallischen Daten für die Forschung aufbereitet. Sie verraten uns viel über das Sterben in dieser Zeit und über den Umgang mit dem Tod. Das Sterben, das uns heute oft so unheimlich und fremd erscheint, war in der Frühen Neuzeit Alltag. Nicht nur dies gab dem Tode eine ganz andere Gestalt als heute.
Der Tod entriss nicht nur den alten Menschen, sondern vor allem Säuglingen und jungen Kindern das Leben. Lag die Säuglingssterblichkeit in Halle bereits am Ende des 17. Jahrhunderts deutlich über dem, was wir heute aus Kriegs- oder Entwicklungsländer kennen, stieg sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts nochmals rapide an. Zwischen 1750 und 1790 starb jedes dritte, manchmal gar jedes zweite geborene Kind. Einen wesentlichen Anteil an diesem Anwachsen der Säuglingssterblichkeit hatten die Pocken, die nach dem Verschwinden der Pest (letztmalig 1682 in Halle), die gefährlichste Infektionskrankheit im 18. Jahrhundert wurden. Besonders in der großen Pockenepidemie im Jahr 1751 starben sehr viele Kinder. Darauf reagierten die Menschen: Schwangerschaften wurden in dieser Zeit offenbar aufgeschoben und ein Abklingen der Epidemie abgewartet. Im Jahr nach der Pockenepidemie wurden nur die Hälfte der sonst üblichen Geburten in der Mariengemeinde registriert.
Dennoch sind die Ursachen für das rapide Anwachsen der Säuglingssterblichkeit im 18. Jahrhundert, das sich auch in anderen Gebieten Deutschlands feststellen lässt, nicht vollends geklärt. Immerhin weiß man, dass die Säuglingssterblichkeit von Region zu Region sehr unterschiedlich ausfiel. Während die Mütter in Norddeutschland ihren Kindern durch langes Stillen einen wichtigen Schutz vor Infektionen mitgaben, verzichtete man im Süden häufig auf die natürliche Nahrung der Säuglinge. Die Säuglingssterblichkeit fiel in diesen Regionen ähnlich hoch aus wie in Halle. Durch den intensiven Zuzug von Menschen nach der großen Pestepidemie 1682 und der Etablierung einer Garnison im frühen 18. Jahrhundert veränderte sich offenbar auch die Stillpraxis in Halle.
Es ist bis heute wissenschaftlich sehr umstritten, wie die Menschen im 18. Jahrhundert mit diesen Verlusten umgingen und welche emotionalen Bindungen sie zu ihren neu geborenen Kindern zulassen konnten, ohne an einem Verlust zu zerbrechen. Tiefer Kummer und Trauer sprechen beispielsweise aus den autobiografischen Schriften des Feldschers und Wundarztes Johann Dietz (1665–1738). Seine Tochter starb noch vor ihrem dritten Geburtstag. Beim Spielen war sie in den Hausbrunnen gefallen und hatte dort mehrere Stunden ausharren müssen. Zwar konnte sie schließlich geborgen werden, dennoch bekam sie rasch Fieber und „Steckfluss“ (schleimigen Husten), woran sie schließlich verstarb. Johann Dietz, der sonst wenig über die eigenen Gefühle reflektierte, äußerte sehr intensiv seinen großen Kummer über diesen Verlust. Die Schilderung offenbart jedoch, dass das Leben der Kinder nicht nur von Krankheiten bedroht war. Unfälle werden immer wieder in den Kirchenbüchern erwähnt.
Eine große Gefahr ging der hallischen Bevölkerung etwa von der Saale aus. Nur wenige Menschen der Frühen Neuzeit konnten schwimmen. Daher ertranken nicht selten Menschen im Fluss. Am 21. Juli 1808 harkten zwei Frauen Brennholz aus der Saale. Dabei wurde der Korb der einen vom Strom mitgerissen. Die Frau stürzte sich in die Fluten und kam dabei um. Ebenso starb die Nachbarin, die ihr zur Rettung hinterher eilte. Schließlich ertrankt auch noch die fünfzehnjährige Maria Sophia Christiana Voigt, die alles vom Ufer angesehen hatte, beim Versuch, der Mutter zur Hilfe zu eilen. Selbst der den Tod täglich notierende Chronist der Mariengemeinde notierte dazu: „Gott! Du bist und bleibst uns für diese Zeit ein verlangender Gott, aber gerecht und heilig in deiner Regierung!“